Ich halte historische Gleichsetzungen immer für sehr fragwürdig. Im Gegensatz zu der Simplifizierung, dass sich Geschichte immer wiederholt, kann man eigentlich nur sagen, dass man von Geschichte lernen kann - ja es sogar tun soll. Aber man sollte nicht dem Fehler unterliegen, dass sich alles wiederholt. Das wäre leider zu einfach.
Situationen mit furchtbaren historischen Gegebenheiten gleichzusetzen und damit zu ersetzen, ist im gelinden Fall einfach nur peinlich (z.B. die Stilisierung von Corona-Leugner und Impfverweigern als Opfer von Antisemitismus) oder einfach eine krasse berechnende Lüge, wie die Gleichsetzung des Bürgerkrieges in der Ukraine mit einem Genozid. Und genauso ist die heutige Ausgangslage in keiner Weise die des zweiten Weltkrieges.
Putin hält Russland nicht für ein überlegende Rasse, die den gesamten Kontinent einnehmen sollte. Genauso wenig halten sich die restlichen Statten von Europa als national überlegen. Wir schimpfen immer über die EU, aber der Erfolg von Europa ist, dass die Staaten keinen Sinn darin sehen das Nachbarland einzunehmen. Die EU schreiben - zum Missfallen einiger Länder - den Mitgliedern bestimmte Standards vor. Aber mehr denn je wird deutlich, dass der Wert der EU nicht in der Bestimmung des Krümmungsradius von Salatgurken besteht, sondern darin rechtsstaatliche Mechanismen zu pflegen. Die EU ist schon lange keine Zollunion mehr. Sie ist eine Werteunion. Die Mitglieder, die nur den einen oder anderen Vorteil sehen, haben deswegen ein Problem mit ihrer Mitgliederschaft.
Aber Zurück zu Russland. Es ist bitter für das ehemalige Kernland der Sowjetunion mit anzusehen, wie sich ihre ehemaligen Gebiete entwickeln, indem sie sich westlicheren Ideen und Strukturen zugewendet haben. Der Teil, in dem Putin der Ukraine vorwirft kein Rechtsstaat und Hort der Korruption zu sein, spricht doch Bände. Putin kann das behaupten, weil nach der internationalen Maßlatte die Ukraine tatsächlich kein vollständiger Rechtsstaat ist und ein erhebliches Korruptionsproblem hat. Interessanter weise liegt Russland in diesen Punkten sehr weit hinter der Ukraine. Das ist eine sehr trotzige und frustrierte Haltung. Das ist wie bei einem Wettkampf den ersten 10 ihre Leistung absprechen, nur weil man weit dahinter auf einem Platz gelandet ist.
Diese Frustration liegt tief. Auch bei anderen Staaten. Wenn Staaten zu lange von einer Person autokratisch regiert werden, kann diese Frustration zur Staatsräson werden. Und in diesem Punkt muss der Westen sich eingestehen, mit seinem Verhalten in der Vergangenheit nicht immer ein gutes mitfühlendes Vorbild gewesen zu sein.
Ich sehe Putins Motivation wie folgt:
* Die Ukraine ist ein wirtschaftlich lohnendes Land. Zumal ihre Einwohner den Russen ähnlich sind (so wie Österreich und Deutschland, um einen weiteren schrägen Vergleich zu bemühen) Und damit leicht zu übernehmen
* Russland hat keinen Bock mehr zu sehen, wie sich ein weiteres Land von ihm abwendet und Richtung Westen driftet.
* Russland kann es einfach machen. Jetzt und nicht später.
* Putins ist ein Mann des Geheimdienstes und des kalten Krieges. Feinde wegzusperren und zu vergiften oder erschießen ist in dieser Welt genauso valide wie seine Macht parallel zu einem Staat auszubauen und damit auf Rechtsstaatlichkeit zu pfeifen.
Zudem pokert Putin mit den Annahmen:
* Niemand opfert sich wirklich für die Ukraine
* Der Westen benötigt russische Energiereserven
* Die westliche Wirtschaft ist nicht bereit finanzielle Einbußen zu ertragen, um politische Verantwortung zu tragen.
* Ein Bündnisse aus vielen Staaten spricht selten mit einer Stimme. Je mehr Staaten je schwieriger.
Die Situation ist also nicht die Gleiche, wie zur Zeit des ersten oder zweiten Weltkriegs wo jeder Nationalstaat nur auf Krieg gewartet hat und am liebsten alle anderen eingenommen hätte. Das bedeutet nicht, dass es den 3. nicht geben kann. Aber er wird anderes um die Ecke kommen.
Für die EU bedeutet das ein gehöriges Maß an Selbstreflektion. Wie wollen wir Europa sehen? Was sind wir bereit zu tolerieren? Können Aufgaben einer Föderation komplett von allen Mitgliedern auf nationaler Ebene übernommen werden? Kann man dringende Probleme einfach verdrängen, indem man einfach Lösungen mit Partnern macht, die einem eigentlich nicht zusagen? Alle diese Probleme sind bekannt. Seit Jahren. Nur hat sie einfach keiner wirklich angehen wollen, weil man sich damit nur in die Nesseln setzen kann.